IMAGO. Kunst.Pädagogik.Didaktik

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Bilderschließung zwischen Unbestimmtheit und Konkretion

Vermessung eines rezeptionsästhetischen Beziehungsgeflechts aus kunstpädagogischer Sicht

Band 9, München 2019, 284 Seiten
ISBN 978-3-86736-509-3
22,80 EUR
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Produktbeschreibung

Bildverstehen kann allgemein als Konkretion von im Bild angelegten Unbestimmtheiten verstanden werden. Jede verstehende Bilderschließung pendelt zwischen Bild und Bildbetrachter und schließt Momente der Unbestimmtheit und Relativität ein, die sich auch aus den kulturellen und historischen Kontexten ergeben.

Der Betrachter muss sich bei der Bildbetrachtung der partiellen Unbestimmtheit einer vom Künstler geschaffenen Bildwirkung aussetzen und versuchen, den Bildsinn im Prozess des Betrachtens fortschreitend zu bestimmen – in personaler Resonanz auf das Bild. Diese Resonanz macht das Bildungspotenzial der Bilderschließung im Kunstunterricht aus.
Die literatur- und kunstwissenschaftliche Rezeptionsästhetik hat dieses Resonanzverhältnis vielfältig thematisiert und unter anderem als ‚Leerstelle‘ ausgelegt. Die Kunstpädagogik hat in der Bezugnahme hierauf das Werk mitunter einseitig als bloße ‚Leerstelle‘ und die Bilderschließung als genuin subjektive Leistung verstanden, die im Grunde allein dem Betrachter auferlegt ist.
Der vorliegende Band tritt hier noch einmal zurück und fragt neu nach. Er arbeitet die literarische und kunstwissenschaftliche Rezeptionsästhetik und deren unscharfe Übernahme in die Kunstpädagogik auf. So zeigt sich, dass die Konkretion von Unbestimmtheit immer im Spannungsverhältnis von anthropologischen Bedingungen, kulturellen Konventionen und betrachterseitiger Erfahrung steht. Demzufolge muss aus Sicht der Unterrichtplanung abgewogen werden, wie sich eine Passung zwischen der Lebenswirklichkeit der Lernenden, den curricularen Zielsetzungen und der Bildwelt fördern lässt.

Dieser Band eröffnet eine neue Sicht auf die kunstpädagogischen Aufgaben der Bildbetrachtung und formuliert – auch anhand von Unterrichtsbeispielen – die Grundlinien einer Didaktik relationalen Bilderschließens.

Dieses Buch leistet einen wertvollen, äußerst erkenntnisreichen sowie aktuellen Beitrag für die Kunstrezeptions- und vermittlungsforschung und kann auch als Plädoyer für die Rückkehr kunstwissenschaftlichen Denkens in den kunstdidaktischen Vermittlungsdiskurs gelesen werden.
Bettine Uhlig, BDK-Mitteilungen 1.2020

Insgesamt leistet die Arbeit einen zentralen Beitrag zur kunstpädagogischen Rezeptionsdidaktik. Dabei gibt sie nicht nur einen Überblick historischer bis aktueller Argumentationslinien, sondern vermittelt klare Handlungsoptionen einer anthropologisch-hermeneutischen Rezeptionsdidaktik. Damit ist sie gleichermaßen für Kunstpädagogikstudierende, Kunstlehrpersonen in der Praxis sowie für eine weiterführende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema empfehlenswert.
Nicole Berner, KUNST+UNTERRICHT 447 • 448 I 2020
 

Inhaltsverzeichnis

Teil I Problemstellung

1 Bildrezeption im Kontext einer anthropologisch-hermeneutisch orientierten Kunstpädagogik

2 Eine Hinführung am Beispiel: Hitchcocks Rear Window

3 Ziel und Aufbau der Arbeit


Teil II Rezeptionsästhetik

1 Literaturwissenschaftliche Grundlegungen


1.1 Erkenntnistheoretische Annahmen

1.2 Unbestimmtheit als Wegzeichen zu einer neuen Werkauffassung
1.2.1 Ingardens phänomenologische Betrachtungen als Basis für Isers Rezeptionsästhetik
1.2.2 Isers Unterscheidung zwischen Unbestimmtheitsstelle und Leerstelle
1.2.3 Isers Bezüge zur Gestalttheorie
1.2.4 Zwischenfazit: Sinnbildung zwischen Gestalttheorie und erweitertem Werkbegriff

1.3 Antworten und Reaktionen auf Isers Rezeptionsästhetik
1.3.1 Die Leerstelle und ihre Bezüge zur strukturalistischen Semantik
1.3.2 Rezeptionsästhetik aus ideologiekritischer Sicht
1.4 Fazit: Rivalität zwischen produktions- und rezeptionsästhetischen Denkmustern

2 Rezeptionsästhetik und Bildende Kunst

2.1 Kemps werkorientierte Rezeptionsästhetik
2.1.1 Hegels Werkästhetik
2.1.2 Kemps Kommunikationsverständnis
2.1.3 Die Leerstelle im Zeichen werkorientierter Rezeptionsästhetik
2.1.3.1 Die Leerstelle und Lessings ‚fruchtbarer Moment‘
2.1.3.2 Die Leerstelle in der mehrteiligen Bilderzählung
2.1.3.3 Ein erzähltheoretisches Zwischenfazit
2.1.4 Fazit: Rezeptionsvorgaben als Mittel der Resubjektivierung

2.2 Ingardens Phänomenologie und das Desiderat einer Rezeptionsästhetik des Bildes
2.2.1 Ingardens Bildverständnis
2.2.2 Über das Gemälde, das Bild und die ‚Konkretisation‘
2.2.3 Gombrichs Schema-Korrektur-Prinzip im Lichte Ingarden’scher
Phänomenologie
2.2.4 Auf dem Weg zu einer anthropologisch-hermeneutischen
Rezeptionsauffassung
2.2.4.1 Intersubjektivität und deren Bedeutung für den Lernprozess

2.3 Bildbeispiele: Ingardens Orientierungszentrum und Kemps Rezeptionsvorgaben

2.4 Fazit: Unbestimmtheitsmomente statt Unbestimmtheitsstellen

3 Rezeptionsästhetik aus kunstpädagogischer Sicht

3.1 ‚Konkretisation‘ und ästhetische Erfahrung

3.2 Der implizite Betrachter in der Kunstpädagogik
3.2.1 Zur strukturellen Anlage des impliziten Betrachters
3.2.2 Zur fehlenden personalen Dimension des impliziten Betrachters

3.3 Zwischenfazit: Ästhetische Erfahrung wider Werkorientierung

3.4 Die Leerstelle in der Kunstpädagogik
3.4.1 Zur Rezeption zeitgenössischer Kunstformen
3.4.1.1 Die Leerstelle als Vehikel kultureller Kompetenz
3.4.1.2 Die Leerstelle als Wahrnehmungslücke
3.4.1.3 Die Leerstelle als ursächlicher Zusammenhang für Erfahrungsprozesse
3.4.2 Zur Bildrezeption
3.4.2.1 Die Leerstelle als narrativer Code
3.4.2.2 Ausblick: Unbestimmtheit(en) über die rezeptionsästhetische Diskussion hinaus

3.5 Fazit: Kunstpädagogische Varianz im Umgang mit Rezeptionsästhetik


Teil III Form und Inhalt

1 Kunstwissenschaftliche Erschließungsweisen von formaler und inhaltlicher Unbestimmtheit


1.1 Panofskys ikonographisch-ikonologische Methode
1.1.1 Panofskys Korrektivprinzip

1.2 Von der ikonographisch-ikonologischen Methode zur kunstgeschichtlichen Hermeneutik
1.2.1 Anschauung und Erfahrung im Auslegungsprozess

1.3 Imdahls Ikonik
1.3.1 Von Imdahls ‚szenischer Choreographie‘ zur Bildnarration

1.4 Möglichkeiten und Grenzen narrativer Bildkonstellationen
1.4.1 Methodische Überlegungen zur Erfassung narrativer Bildqualitäten

2 Kognitionswissenschaftliche Sicht auf die formale und inhaltliche Bildverarbeitung

2.1 Kognitive Ebenen der Bildverarbeitung

2.2 Bildkomposition und Blickbewegung

2.3 Gestaltsignal und Anmutungsqualitäten

2.4 Fazit: Überschneidungspunkte zwischen Kognitionspsychologie und Kunstwissenschaft

3 Zusammenschau formaler und inhaltlicher Bildmerkmale


TEIL IV Rezeptionsdidaktik

1 Das Bild und seine Rezeptionsvorgaben: Eine Einladung zum Perspektivwechsel


1.1 Zur Rolle von Anschauung und Erfahrung im Lernprozess

1.2 Unterrichtsplanung und andere offene Fragen

2 Der Perspektivwechsel am Beispiel von Edward Hoppers Nighthawks

2.1 Bildproduktion und Bildwerk zwischen Unbestimmtheit und Konkretion
2.1.1 Bildbeschreibung
2.1.2 Bildaufbau und Blickführung
2.1.3 Hoppers Bildimagination: Über die darstellerische Vergegenwärtigung innerer Bilder
2.1.4 Zentrum und Peripherie der Aufmerksamkeit in der Bildgestaltung

2.2 Bildrezeption zwischen Unbestimmtheit und Konkretion
2.2.1 Fallbeispiel 1: Gregor und Tom
2.2.2 Fallbeispiel 2: Jan und Lara
2.2.3 Gegenüberstellung und Auswertung der Fallbeispiele
2.2.3.1 Mimesis und Deixis in der Zeichnung
2.2.3.2 Mimesis und Deixis in der Sprache
2.2.3.3 Ergebnissicherung

2.3 Fazit: Bilderschließung als Teil-Ganzes-Relation

3 Ausblick: Unbestimmtheit und Konkretion in der Unterrichtspraxis

3.1 Bildauswahl und rezipientenseitige Erfahrungsreichweite

3.2 Perspektivwechsel am Beispiel zweier unterrichtspraktischer Episoden
3.2.1. Erste Episode: Hoppers Nighthawks
3.2.2 Zweite Episode: Kahlos Verletzter Hirsch

3.3 Fazit: Bilderschließung als geteilte Aufmerksamkeit


Nachwort


I Literaturverzeichnis

II Filmverzeichnis

III Abbildungsverzeichnis